Münchens schwarze Vergangenheit
Wenn man vom Sendlinger Tor in Richtung Süden geht, schreitet man die Thalkirchner Straße entlang, bis man wenige Minuten später vor einer großen Pforte aus rostigem alten Gussstahl steht. Der Weg hindurch ist wie eine Reise in eine längst vergangene Zeit.
Es ist eine Zeit, in welcher dieses Gebiet noch vor den Toren der Stadt lag. Wir schreiben das Jahr 1563. Einige Pest-Epidemien streifen Bayern und machen trotz der militärisch gesicherten Stadtmauern nicht vor der Hauptstadt halt. Viele Münchner fallen dem schwarzen Tod zum Oper - zu viele. Die Friedhöfe in der Stadt sind am Ende ihrer Kapazität.
Es war die Geburtsstunde des Tores, das wir gerade durchschritten haben. An einem Ostersonntag im Jahr 1536 war es das erste Mal für die Bevölkerung zugänglich, um ihre Liebsten zu beerdigen und um ihnen die letzte Ehre zu erweisen. Wir sind am alten Münchner Südfriedhof.
Es ist ein faszinierender Ort mit einer reichen Geschichte. Auf fast zehn Hektar erstreckt sich dieser Friedhof, der seit 1944 keine Bestattungen mehr durchführt und unter Denkmalschutz steht. Die alten Gräber, die von einzigartiger Schönheit sind, erlauben eine unglaubliche Reise in die Vergangenheit. Obwohl es ein Friedhof ist, fühlt es sich unter den alten Bäumen an als wäre man in einem Park.
In den folgenden Jahrhunderten wurde der Friedhof mehrmals erweitert. 1830 erhielt er seinen heutigen Umriss, der an einen Sarg erinnert. Der Architekt, der den Friedhof angelegt hatte, Friedrich von Gärtner fand auch hier seine letzte Ruhestätte. Er teilt sich den Platz der Ewigkeit mit nahezu allen bedeutenden Münchner Persönlichkeiten bis in die späten Jahre des 19. Jahrhunderts.
Besonders bemerkenswert ist, dass neben den Namen auch der Beruf der begrabenen Persönlichkeiten vermerkt ist. Vom Privatier, über den Braumeister bis hin zum K&K Kriegsrat und dem alten Salzmeister ist alles vertreten.
Pietätvoll schreite ich durch die Wege und sehe Mahnmale längst vergangener Zeiten. Die Jahreszahlen reichen – sofern ich es überblicken kann - von 1640 bis weit in die 1900er Jahre hinein. Es sind Zeitzeugen einer Zeit lange vor Gründung der heutigen Bundesrepublik.
Als Ort von besonders historischem Interesse kümmert sich die Stadt liebevoll um den Erhalt der Gräber und des Areals - sofern das möglich ist. So sind viele der alten Steintafeln immer noch lesbar und bleiben für die Nachwelt erhalten.
Es gibt jedoch Bereiche, in denen die Natur die alten Gräber für sich beansprucht. Dem Zahn der Zeit kann selbst ein massiver Grabstein nichts entgegensetzen. Es verdeutlicht uns einmal mehr, wie unbedeutend wir doch sind.
Efeu macht sich breit und die Natur erobert Ihr Areal zurück. Eisen rostet, Stein zerfällt und der Mensch stirbt - am Ende bleibt nur der Staub übrig, aus dem neues, grünes Leben entsteht.
Plötzlich taucht vor mir ein Grab auf, das von einer riesigen Statue bewacht wird. Es ist die heilige Jungfrau Maria, die in der Hand eine Rose hält. Eine schöne rote Rose. Die Rose sieht fast so aus, als sei sie fehl am Platz - ja sogar etwas künstlich. Ein schöner Farbklecks in der tristen Januarkälte am Friedhof.
Am Grab gegenüber hängt ihr Sohn am Kreuz. Jesus ist 392 Jahre alt und trotzt dem Rost, Wind und Wetter.
Andere Gräber zeugen von Mut und Ehre für das Vaterland. Ein königlich-kaiserliches Wappen und ein Kriegshelm zeugen von Ehre - auch nach dem Tod.
Anderswo findet man eine wunderschöne Holzstatue, die unter einem Dach geschützt die letzten 200 Jahre bemerkenswert gut überdauert hat.
Fotos gab es zu dieser Zeit noch nicht, doch ab und an treffen die Blicke auf bildhauerische Meisterleistung.
Dr. phil. Martinus Schleich liegt hier begraben. Er lebte von 1827 bis 1881:
Eines der ältesten erhaltenen Kreuze findet man am südlichen Ende des Friedhofs. Aus dem Jahr 1811 soll es stammen und ist trotzdem noch so gut erhalten.
Nach über 3 Stunden verlasse ich den Friedhof wieder durch die Säulenhalle am anderen Ende. Zurück auf der Straße im 21. Jahrhundert fühle ich mich wie nach einer Zeitreise. Wie schön muss es damals gewesen sein? In einer Zeit vor Internet und Mobiltelefon? Und plötzlich klingelt mein Handy: Eine Nachricht "Ich komme 15 Minuten später" lese ich am Display.
Ich werfe einen Blick zurück zu den Gräbern und muss lächeln. Wie hätten die Münchner der damaligen Zeit wohl gehandelt? Mit den alten Persönlichkeiten scheint auch eine andere Tugend zu sterben: die Pünktlichkeit...